Беларусь !
20 09 2008Wer sieht sich selbst nicht gerne als unkoventioneller Blogger? Bei mir selbst kann man diese Unkonventionalität vielleicht darin beschreiben, dass ich in diesem Blog Gedanken veröffentliche, die einen Sachverhalt, ein Erlebnis oder ein Gefühl im Detail beschreiben und nicht die ausschweifenden Alltagsbeschreibungen und Reiseberichte sind es, die hier ihren Platz finden. Doch nun habe ich mich trotzdem dazu entschlossen, über meinen dreiwöchigen Trip nach Weissrussland einige Gedanken zu verlieren, wenn auch mit einiger Verspätung.
Zu Beginn ein kleiner Gedankenanstoß: Ich bin mir sicher, dass über die Hälfte der Leser dieses Artikels sich nicht darüber im Klaren sein werden, in welchem Land Tschernobyl liegt, geschweige denn davon, dass der radioaktive Niederschlag, der durch das dortige Reaktorunglück entstand, gar nicht dort auf Erde, Tier, Natur und Mensch niederging, wo der Vorfall stattfand, sondern in einem Nachbarnland, von dem noch mehr Leser nicht wissen werden, dass es seit der Auflösung der Sowjetunion ein eigenständiges Land ist, welches nicht zu Russland gehört. Беларусь, Belarus, Weissrussland.
Man denkt, in den seit April 1986 verseuchten Gebieten würde sowieso keiner mehr wohnen, die Menschen seien doch alle evakuiert worden. Und selbst wenn – der Vorfall in Tschernobyl ist doch schon bald 25 Jahre her. Das Raffinierte an der Sache ist, dass eben dies die Politik der betroffenen Länder geschafft hat, in den Köpfen der Menschen – nicht nur im eigenen Land – zu etablieren. Doch hier geht es um Halbwertszeiten von über 2000 Jahren und es halten sich dort immer noch Menschen auf, wohnen dort, leben dort, essen dort und bekommen dort ihre Kinder. An Umsiedlung ist bei der desaströsen finanziellen Lage des Landes nicht zu denken, und offiziell gibt es dort auch keine
Statistik, die von Strahlenopfern spricht, was sich ins Schema der totalen Desinformation durch den Staat nahtlos einfügt. So ist es für die Betroffenen ohne Hilfe durch Dritte unmöglich, in unverstrahltes Gebiet zu ziehen und ihrer Familie dadurch trotz der schon vorhandenen Erbschäden eine Zukunft in einer gesunden Umgebung bieten zu können. Neben fehlenden oder verkrüppelten Gliedmaßen, offenen Rücken bei Neugeborenen und natürlich Krebs, vermindern strukturelle und wirtschaftliche Probleme drastisch die Lebensqualität der Menschen in den betroffenen Gebieten.
Der Verein Heim-Statt-Tschernobyl e.V. hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Menschen zu helfen. Mithilfe von Freiwilligen aus Deutschland und Belarus werden auf gesunder Erde zusammen mit den Betroffenen Häuser gebaut, die von Spendern aus Deutschland finanziert werden. Im August nahm ich für 3 Wochen an solch einem Workcamp teil, welches allerdings nicht nur den Bau des Hauses
beinhaltete , sondern auch die persönliche Begegnung und Aussöhnung mit der belarussischen Bevölkerung bezweckt.
Unsere genau Aufgabe war es, zusammen mit den zukünftigen Besitzern des Hauses und weissrussischen Studenten und Freiwilligen, die Wände der Häuser zu füllen. Dies geschieht nicht wie üblich mit Stein oder Beton, sondern mit einer Masse aus Lehm, Wasser und Holzhäckseln, was zwar sehr ökölogisch, energieffizient und recht preisgünstig für diese Art von Häusern ist, aber viele Hände braucht, da diese Vorgänge in dieser Form nicht maschinell möglich sind. Nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht: Bei den fertigen Gebäuden handelt es sich nicht um kleine Lehmhütten, sondern vollwertige Lehmhäsuer, die auch den widrigen belarussischen Wintertemperaturen von über
-30°C Widerstand gebieten. Ich war während der hauptsächlichen Bauarbeiten am Mischer tätig, der dieses Gemisch für die Wandfüllung herstellte.
Die Landschaft und Natur Weissrusslands ist geprägt von Landwirtschaft und Unberührtheit.
Da ich sehr oft mit dem Fahrrad zwischen der Stadt und dem Dorf unterwegs war – meist in der Abenddämmerung – konnte ich diesen Traum aus grün und blau ausgiebig bestaunen. Das Telefonieren wäre mir mit dem Mobiltelefon möglich gewesen, doch bei Minutenpreisen von 3 € greift man dann lieber auf die Telefone in der Post zurück, mit denen man für umgerechnet 6 € über eine halbe Stunde nach Deutschland telefonieren konnte.
Apropos Dienstleistung: Bei der Einhaltung ihrer Pausen sind die Weissrussen sehr genau. Es kann also schon mal vorkommen, dass einem die Dame am Post-, Telefon- oder Bankschalter mitten im Gespräch das Sprechfenster pünktlich zur Pause zuknallt. Sehr amüsant.
Neben der Arbeit standen auch Ausflüge in die Hauptstadt Minsk, die Geburtsstadt Chagalls Vitebsk und zu Mahnmälern des 2.Weltkrieges auf dem Programm – einem Krieg, der Weissrussland zugesetzt hat, wie kaum einem anderen Land. Es war nach dem Krieg nahezu komplett zerstört; die großen Städte zerbombt und beim Rückzug der Front wiederrum überrollt, und hunderte von Dörfern von der SS niedergemacht, die Menschen abgeschlachtet. Auch schon im Ersten Weltkrieg zog sich die Frontlinie durch Belarus. Ein Land, welches immer zu leiden hatte, vielleicht kann man sogar sagen: ein Land der Opfer. Momentan kann man jedoch sagen, dass es
wirtschaftlich trotz grauenhafter Inflation (1 € = ca. 3000 Rubel) in diesem Land aufwärts geht. Die Menschen spüren das, wodurch sich die breite Unterstützung erklären lässt, die der Präsident auf Lebenszeit Aljaksandr Lukaschenka im Volk geniesst. Für Teilnehmer des Camps, die schon vor mehreren Jahren das Land besucht hatten, war dieser Aufschwung deutlich sichtbar: mehr Autos und weniger Pferdefuhrwerke, mehr Restaurants und ein bisschen mehr vom Rest der Welt in einem Land, dessen Regierung sich zugleich von Russland im Osten und Europa im Westen abschotten möchte.
Eine sauberere, geordnetere und aufgeräumtere Stadt als Minsk habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Auch nicht im Fernsehen oder in Reiseführern. Keine Graffitits und Schmierereien, keine Obdachlosen
und Bettler (bis auf ein paar alte, vom Leben gezeichnete und bucklige Frauen, die Babuschkas, denen man gerne etwas zusteckt) und wenig Straßenverkehr. Die Vororte sind zugepflastert mit sowjetischen, geschmacklich diskutabel konstruierten Plattenbauen.
Geheiratet wird Samstags, was zur Folge hatte, dass wir bei Besichtigung der Träneninsel, einer Insel mit vielen Denkmälern, ungefähr 40 Brautpaare zu Gesicht bekamen, die traditionell an den Gedenkstätten Blumen niederlegten. Ach übrigens, in jeder Stadt steht mindestens eine Lenin-Statue, meinem Urteil nach im ganzen Land überall das gleiche Modell, zumeist auf dem Leninplatz, der auch in jeder etwas größeren Stadt zu finden ist. Die größte Statue muss wohl die vor dem Regierungspalast sein.
Menschen und Sprache haben
ihren ganz eigenen Charme. Was mich sehr beeindruckte war, dass nicht über alles gemeckert und drumherum geredet, sondern einfach gemacht wird. Das hat zwar seine Vor-und Nachteile, aber macht auf jeden Fall anpassungsfähiger und sympathischer. Wenn man Fremden begegnet, können die etwas ruppig sein, wenn man die Menschen jedoch näher kennenlernt, dann werden einem überaus gastfreundliche Menschen begegnen, was wir auch bei unseren Gastfamilien erfahren durften, welche die schon fertigen Häuser bewohnen.
Was mich in diesen drei Wochen jedoch am meisten fasziniert hat, war die Mischung von Menschen verschiedensten Alters, verschiedenster Biografie, Herkunft und Charakters im Camp. Ich habe mich mit Leuten im Rentenalter unterhalten, als wären sie in meinem Alter, habe vom Friedensaktivisten, über den Landwirt bis zum Bundeswehrfeldwebel mit den verschiedensten Menschen zusammengearbeitet und mit jungen Weissrussen Bekanntschaften und Freundschaften geschlossen.

Sobald man in einem Land wirkliche menschliche Begegnungen gemacht oder sogar Freunde gefunden hat, dann beginnt man über diesen Flecken Erde auf eine ganz andere Art zu reflektieren. Normalerweise sind Spätsommer für ihre milden Temepraturen bekannt, doch gerade zu solch einer heißen politischen Zeit, in welcher wir in diesem Herbst stecken, wird einem dann bewusst, dass die Grenzen zwischen Ländern in keinem Fall die Grenzen zwischen den Menschen sein, und auch niemals werden dürfen!
Weissrussland, dass aufgrund seines politischen Systems und seiner Partnerschaften politisch und wirtschaftlich weitgehend isoliert ist, einer “Achse des Bösen” zugehörig zu bezeichnen, ist schlicht eine beschämende Beleidigung für die Menschen in Belarus. Aus diesem Grunde macht mir die momentane Krisenstimmung im Osten Angst,
denn die Vergangenheit, selbst die jüngste, hat gezeigt, wie schnell Krieg entstehen kann, Nationen zerteilen, Menschen trennen und Leid über sie bringen kann.
Wir werden sehen …
Schubladen : Wahre Erlebnisse