Auch wenn einige behaupten, wir Menschen würde die Vergangenheit verehren, weil wir ein perverses Verhältnis zu ihr haben – das Graben in alten Fotografien von Vorfahren, seien es solche die man noch gekannt hat, oder solche, die man nie getroffen hat, das ist etwas Besonderes.
Fotografien von den Brüdern meiner Großmutter. Einer gesunken mit der Scharnhorst, einer gefallen bei Warschau durch einen Kopfschuss. Dafür gab es ein Verwundetenabzeichen. Ein Stück lackiertes Metall. Was wollen Tote mit Abzeichen, wenn wir sie selbst vergessen? Beide damals erst um die 20. Gesichter deren Züge man kennt, Verwandte, die einem selbst ähnlich aussahen, in denen man sich selbst zu sehen vermag, auch wenn sie ihre letzten Gedanken dachten, ihre letzten Atmezüge taten, als wir noch lange nicht begonnen haben zu existieren. Gefallen, so wie viele andere auch, auf allen
Seiten, ob für eine gute Sache oder nicht, spielt für die einzelnen Schicksale in diesem Moment keine Rolle.
Im nächsten Stapel sind Bilder zu finden, die einen der beiden auf einem Landweg mit Freunden zeigen, lachend in stattlichen Anzügen, wenige Wochen vor dem Gang in den Krieg, in fröhlicher Pose mit der Mandoline in der Hand. Fotos im Garten, Portaits in Uniform in Hochglanz – das einzige was bleibt, was den Müttern damals blieb.
“Wollte dich fragen, ob du meine Mandoline haben willst”, steht in einer Karte an meine Großmutter. Vielleicht wollte man sie ihm wegnehmen, vielleicht wollte er sie retten, falls ihm was passieren sollte – vielleicht wieder damit spielen, wenn er wieder zu Freunden und Familie zurückgekehrt wäre. Vielleicht, vielleicht, vielleicht …
Briefe von Freunden, die mit 18 Jahren im März 45 an die Front gingen, und ebendies in den letzten, in den Hinterlassenschaften auffindbaren Briefen in Eile, mit Bleistift und zittriger Schrift berichteten.
Niemand weiß
genau, was sie dachten und wer sie waren, und die die es noch wussten, die sind auch schon fort. Von Asche zu Asche, von Staub zu Staub. Was übrig bleibt sind die vergilbten Postkarten und bleiche Fotografien. Man kennt diese Schicksale, man kennt sie aus dem Fernsehen, aus dem Geschichtsunterricht, aus Büchern, doch hier hält man ihre Briefe, ihre Worte, ihre Sätze in der Hand … ihre Gedanken. Das ist etwas anderes. Das sind die eigenen Wurzeln, für die man sich heute meist nicht mehr zu interessieren vermag.
Wo wäre ich gestanden zu dieser Zeit, was hätte ich gedacht, was hätten wir gedacht?
Vielleicht sind uns diese alten Fotos eine Lehre und möglicherweise schauen diese Menschen auf uns herunter und wünschen uns nicht nur, dass es uns besser ergeht, sondern dass wir alle Kriege und jeden Hass, der solches auszulösen vermag, zu verhindern wissen mögen …